Ich bin ein Babyboomer. Genauer gesagt eine Babyboomerin. Und somit in einer Welt aufgewachsen, die für uns immer größer wurde. Mein erstes Auto war ein Fiat 126. 23 PS und gelb wie ein Briefkasten. Wenn ich meinen Einkaufskorb auf dem Beifahrersitz und meinen Cockerspaniel auf der Rückbank abgelegt hatte, war das Auto voll. Mein heutiges Auto hat 140 PS und bietet fünf Personen und einer IKEA-Küche ausreichend Platz.
Wir sind es gewohnt, dass sich die Freiheitsgrade für uns ständig erweitern: Vom Badesee der Heimatgemeinde über das Mittelmeer, den Atlantik bis hin zur Karibik. Von der reinen Mädchenschule über koedukative Ausbildungen und bunt gemischte WGs bis hin zu Patchworkfamilien und eingetragenen Partnerschaften. Die Welt stand uns offen – soweit, wie das Portemonnaie gereicht hat. Europäische Grenzen wurden geöffnet, in Berlin fiel die Mauer, die Unfähigkeit, die Lira oder den Dinar richtig umrechnen zu können spielte keine Rolle mehr, Frauen eroberten die Universitäten und Chefetagen, die Kirche hat ihren Einfluss eingebüßt, Fliegen wurde so günstig, dass Kurztrips in jede europäische Hauptstadt spontan möglich waren, die Informationstechnologie ersparte uns den Weg zum nächsten Postamt, Nachrichten konnten plötzlich Tag und Nacht versendet werden, Telefonate waren nicht mehr davon abhängig, ob wir zuhause waren und eine freie Leitung bekamen – überall und in jeder Lebenslage lernten wir, Gespräche zu führen … eine Erweiterung unserer Freiheitsgrade auf allen Ebenen!
Und jetzt das: Einschränkung unserer Freiheitsgrade. Das erste Mal, seit wir dem Alter eines möglichen Haus-, oder Stubenarrestes entwachsen sind. Und auch den erlebten wir damals als Maximum der Ungerechtigkeit und des Machtmissbrauchs einer hilflosen Autorität.
Das, was wir zurzeit erleben und empfinden mag sich so anfühlen, wie eine depressive Verstimmung: Antriebslosigkeit, Verlust an Freude, Rückzugstendenzen und dunkle Gedanken. Was jedoch der Unterschied zu einem klassischen depressiven Denkmuster im Sinne einer erlernten Hilflosigkeit¹ ist, ist das Nicht-Vorhandensein des „me“. Das „me“ bedeutet: „Es liegt an mir!“ Das bedeutet, dass ich mich für die Situation, in der ich mich befinde, schuldig fühle. Die weiteren zwei Denkmuster betreffen das „always“ – „Das wird auch in Zukunft so ein!“ und das „everything“ – „Es wird überall so sein!“
Demgemäß mache ich nicht mich selbst zur Schuldigen oder zum Schuldigen dieser Einschränkung, sondern andere Personen. Das lässt weniger auf eine depressive, als auf eine wütende Grundbefindlichkeit schließen. Und die kommt nicht von ungefähr.
Erstens haben wir gelernt, uns auf die Erweiterung unserer Freiheitsgrade zu verlassen und zweitens sind wir getrimmt auf Selbstverwirklichung, Machbarkeit und Selbstoptimierung. Das hält unsere Wirtschaft am Laufen und macht uns zum Teil atemlos im Hamsterrad des Versprechens nach Glück und Anerkennung. Dieser Zielerreichung glauben wir uns nun beraubt.
Dazu kommt, dass wir eher ein homo prospectus – ein vorausschauender Mensch (geworden) sind: Ziele motivieren uns mehr als Vergangenes. Und Ziele können derzeit nur sehr zeitnah ins Visier genommen werden: Wir können heute unsere alte Gitarre aus dem Keller holen, die Saiten neu bespannen und darauf herumzupfen. Wir können morgen Freunde einladen, sie bekochen und mit ihnen plaudern und lachen. Wir können übermorgen wieder einmal einen Brief mit der Hand schreiben, ihn zur Post bringen und jemanden damit überraschen.
Wir, die Babyboomer, haben schon vieles erlebt, durchgemacht, erschaffen, überstanden und uns immer wieder neu erfunden. Wir können das. Nun gilt es, in eine kluge Balance von möglicher Einflussnahme und notgedrungener Annahme zu kommen. Jene Nischen zu erkennen und aktiv zu gestalten, die uns zur Verfügung stehen. Aus dem Modus des rebellierenden Stubenarrestierten in einen Modus des kreativen Lebensgestalters zu kommen. Unsere Gedanken und Energien dorthin zu lenken, wo wir frei sind und uns nicht dort zu verbeißen, wo wir es grad nicht sind. In dieser Entscheidung sind wir frei. Wie Ruth Cohn² vor langer Zeit gesagt hat: „Ich bin nicht allmächtig, ich bin nicht ohnmächtig – ich bin partiell mächtig.“
¹ Martin Seligman, 1942 in New York geboren, US-amerikanischer Psychologe und Pionier der positiven Psychologie
² Ruth Cohn, deutsch-amerikanische Psychoanalytikerin und bedeutende Vertreterin der humanistischen Psychologie. Sie entwickelte ein einzigartiges Modell des Leitens von Gruppen, die von ihr so genannte „Themenzentrierte Interaktion“. 1912 in Berlin geboren, Flucht über die Schweiz in die USA, 1974 Rückkehr in die Schweiz, 2010 – im Alter von 97 Jahren – in der Schweiz verstorben.