Riemann beschreibt in seinem Buch „Grundformen der Angst“ vier Grundstrebungen, die für die meisten Menschen – unabhängig ihrer Kultur – mehr oder weniger zutreffen. Ob Chinese oder Waldviertler: Diese vier Grundstrebungen sind da und möchten gelebt und gewürdigt werden. In seiner Vorstellung hat ein Mensch, der das tut, ein solides Fundament und ist mit sich und dem Leben zumindest im Reinen.

Werden eine oder mehrere Grundstrebungen vernachlässigt, so gerät der Mensch aus der Balance. Nicht nur in der Selbst-, sondern auch in der Fremdwahrnehmung. Dominiert hingegen eine Grundstrebung zu stark, dann tritt die, hinter jeder Grundstrebung lauernde Angst, zum Vorschein.

Diese Krise hätte Riemann die große Chance geboten, ein transkulturelles Sozialexperiment durchzuführen: Was passiert mit Menschen, wenn sie daran gehindert werden, drei der vier Grundstrebungen zu leben und dafür eine Grundstrebung – die nach Distanz – exorbitant leben zu müssen? Wenn Distanz dominiert – selbst wenn man zu den Grantlern gehört –  taucht dahinter die Angst nach Vereinsamung auf. Nähe nicht zu leben, bedeutet den Verlust des Gefühls, eine menschliche Bedeutung im Leben zu haben; Dauer nicht leben zu können, bedeutet den Verlust des Gefühls, Kontrolle über das Leben zu haben; Wechsel nicht leben zu können bedeutet den Verlust des Gefühls, frei zu sein.

Und das Übermaß an Distanz erzeugt die Angst vor Einsamkeit.

Nähe

Hier steht der Wunsch nach vertrautem Nahkontakt; die Sehnsucht, lieben zu können und geliebt zu werden. Eine Bindung wird zumeist angestrebt, das Bedürfnis nach Zwischenmenschlichem, sozialen Interessen, Geborgenheit, Zärtlichkeit, ebenso nach Bestätigung und Harmonie, Mitgefühl und Mitleid, Selbstaufgabe.

Distanz

Hier äußert sich der Wunsch nach Abgrenzung von anderen Menschen, um ein eigenständiges und unverwechselbares Individuum zu sein. Die Betonung liegt auf der Einmaligkeit, der Freiheit und Unabhängigkeit, Unverbundenheit und Autonomie. Das Streben nach klarer Erkenntnis des Intellekts wird deutlich.

 Dauer

Die Sehnsucht nach Dauer und der Wunsch nach Verlässlichkeit und Ordnung aktivieren im Menschen Grundtendenzen, die mit folgenden Begriffen umrissen werden können: Planung, Vorsicht, Voraussicht, Ziel, Gesetz, Theorie, System, Macht, Wille und Kontrolle. Damit wird verdeutlicht, welche Grundstrebung gemeint ist: das den Moment Überdauernde wird angestrebt, um durch Langfristigkeit Sicherheit zu erlangen.

Die zeitliche Dimension lässt sich auf den zwischenmenschlichen Bereich übertragen: Hier gelten Verantwortung, Pflicht, Pünktlichkeit und Sparsamkeit, Achtung und Treue.

Wechsel

Diese Tendenz beschreibt den Wunsch nach dem Zauber des Neuen, dem Reiz des Unbekannten, von Wagnissen und des Abenteuers; den Rahmen sprengen, den Augenblick erleben. Das Bedürfnis nach Spontaneität und Leidenschaft, Freiheit, Charme und Suggestion, nach Temperament, Genuss, Phantasie, Verspieltheit, Begehren und Begehrt-werden wird deutlich.

Die letzten Wochen waren für uns alle eine Art Sozialexperiment. „Wie gehe ich, wie gehen andere damit um, wenn wir nicht leben können, was in uns grundangelegt ist? Und was passiert mit uns, wenn wir auf eine Grundstrebung reduziert werden?“

Wären wir ein Sessel, dann hätten wir nur mehr ein Bein – und das zittert vor Angst. Das wird mit der Zeit ungemütlich, denn es braucht viel Anstrengung, um in Balance zu bleiben. Müdigkeit, Kraftlosigkeit und schwindender Mut sind die Folgen. Es ist also vollkommen normal, sich zurzeit nicht gut zu fühlen.

Dennoch können wir darauf vertrauen, dass noch alle Grundstrebungen in uns lebendig sind. In uns ist noch immer eine Sehnsucht nach Nähe, nach Orientierung und Abwechslung. Und auch die Fähigkeit, diese Sehnsüchte auszuleben.

Vielleicht haben sich durch die Krise unsere Prioritäten in diesen vier Ausprägungen etwas verschoben. Wenn sich diese neue Gewichtung gut anfühlt, dann sollten wir achtsam damit umgehen und uns überlegen, wie wir dieses Neue in unser zukünftiges Leben liebevoll einpflegen können. Dann hat unser Sessel wieder vier stabile Beine – mit dem wir auch schaukeln können.


Über Fritz Riemann

1902 in Chemnitz geboren, Mitbegründer des „Instituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie“ in München, das 1974 in „Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie“ umbenannt wurde. 1961 veröffentlichte er sein Hauptwerk: „Grundformen der Angst“. Darin postuliert er vier Typen der Persönlichkeit, bei denen es sich – in seinen Worten – „letztlich um vier verschiedene Arten des „In-der-Welt-Seins“ (ebd., akt. Ausgabe: Einleitung, S. 18), verbunden mit den entsprechenden „Grundformen“ der Angst, handeln soll. Er nennt sie schizoide, depressive, zwanghafte oder hysterische Persönlichkeiten.
Riemann betont, dass ein Mensch nicht nur eine dieser Charaktereigenschaften hat, sondern individuell und wandlungsfähig ist und z.B. einen Bereich stärken kann, der bisher nur schwach ausgeprägt war.

Fritz Riemann: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie. Ernst Reinhardt, 1991